HANDBALL inside | Ausgabe #48 6/2022

AUSGABE #48 6/2022 59 reiche Idee kam, dass Medienvertreter vor den Terminen plötzlich mitteilen sollten, mit welchen Nationalspielern man zwischen den Spielen sprechen wolle. Womöglich war der Profifußball hier Vorbild. Bei der WM 2005 führte das allerdings zu Problemen, die Hühnergarth nun selbst irgendwie lösen musste. Daher rief er, als wir auf dem Weg von Hammamet zum WM-Standort Sousse waren, seinen ehemaligen Kollegen von der Handballwoche an und flehte um Hilfe. „Niemand will mit Carsten reden“, sagte er. Jedenfalls wollte er unbedingt vermeiden, dass Carsten Lichtlein irgendwo verloren in einer Ecke herumstand, während sich die Journalisten um Torsten Jansen, Johannes Bitter oder Holger Glandorf scharten. Der Kollege rollte zwar mit den Augen, führte aber tatsächlich ein Interview mit dem Torhüter, der schon damals etwas zu sagen hatte. Elf Jahre später, als die DHB-Auswahl in Krakau Europameister wurde, nahm Lichtlein als Kapitän den Pokal in Empfang. Und alle Kollegen wollten nun genau wissen, wie er diesen Triumph erlebte. Dies allerdings ohne Terminprotokoll, das nach 2005 wieder abgeschafft wurde. WM 2007: BRANDS ANRUF Dass der Bundestrainer einen Journalisten unverhofft anruft, kommt nicht so häufig vor. Noch seltener ist, dass dies kurz nach einer Pressekonferenz geschieht. Aber Heiner Brand lag, während sich die WM 2007 in Deutschland gerade zum „Wintermärchen“ aufmachte, vor dem Hauptrundenspiel in Dortmund gegen Frankreich noch etwas auf dem Herzen. „Brand“, brummte er am Telefon, während ich in einer Auto-Werkstatt saß und schrieb, „mir ist da noch was eingefallen“. Es ging um Claude Onesta, den Trainer der Franzosen, der sich öffentlich über die Unterbringung seines Teams beschwert hatte. Ich hatte den Bundestrainer gefragt, was er denn von dieser Kritik halte, und aus der Antwort Brands war schon klar geworden, wie ungehörig er diese Nörgelei fand, wo doch alle Welt gerade das Handballfest in vollen Zügen genoss. Jedenfalls erzählte Brand nun über das schlechte Essen bei der WM 2001 in Frankreich und auch darüber, dass das Team einmal während eines Standortwechsels die Klamotten auf den Knien transportieren musste. Der Bundestrainer echauffierte sich also sehr. Umso süßer dürfte der sensationelle Sieg in Dortmund geschmeckt haben. Und noch mehr der Triumph im Halbfinale in Köln. WM 2009: REPORTERGLÜCK Wer sich als freier Journalist am Markt behaupten will, muss eingetretene Pfade verlassen. Aus diesem Grund hatte sich Christina Pahnke am 25. Januar 2009 in Zadar, während alle anderen Kollegen hinter dem Tor hockten, als einzige Fotografin auf Höhe der Mittellinie postiert, als das WM-Hauptrundenspiel zwischen Deutschland und Norwegen auf die letzten Sekunden einbog. Und sie hielt nach dem Schlusspfiff mit dem Objektiv auf Bundestrainer Heiner Brand, der wutentbrannt und mit erhobener Faust auf den slowenischen Schiedsrichter Peter Ljubic zustürmte. Dieser hatte zuvor zweimal einen deutschen Einwurf wiederholen lassen, weshalb die letzten Sekunden verstrichen waren, und die deutsche 24:25-Niederlage besiegelt. Pahnke jedenfalls hatte die wichtigste Szene dieser WM exklusiv – und war sich dennoch unsicher. „Heiner tut mir so leid“, sagte die Münchnerin ein paar Minuten später und zeigte im Pressezentrum ihre Aufnahme. „Darf ich das Foto überhaupt rausschicken?“ Ja, warum denn nicht? Die Intuition der Fotografin jedenfalls sollte sich lohnen. „Nie wieder“, erzählte Pahnke später, „ist ein Handballfoto von mir so oft gedruckt wurden“. WM 2011: FRÜHLING IM SCHNEE Der Mann sah müde aus, sehr müde. Das Gesicht aschfahl, Augenränder wie Gullydeckel, schleppte sich Heykel Mgannem durch die Vorrunde der WM 2011 in Schweden. In Kristianstad, wo das Team des tunesischen Regisseurs logierte, lag zentimeterhoch Schnee, die Stadt sah aus wie dick eingepudert. Aber für dieses Idyll hatte der damals 33-Jährige keine Augen. Und seine Gedanken waren auch nicht beimHandball. „Das ist ein schwieriges Turnier für uns“, sagte Mgannem, und er erzählte, dass er und seine Kollegen die Nächte hindurch Fernsehen schauten, weil sie alles sehen wollten, was da Ungeheuerliches in ihrer Heimat passierte. Da war nämlich der Diktator Ben Ali eben gestürzt, der „Arabische Frühling“ nahm seinen Anfang. Das war Gift für die körperliche Verfassung, klagte ihr französischer Trainer Alain Portes: „Meine Spieler sind sehr müde und nicht in guter Kondition.“ Mgannem zuckte nur mit den Achseln. Ihm war, das war zu spüren, die WM völlig egal. Und nicht nur ihm. Am Tag, nachdem die tunesischen Handballer mit 13 Toren gegen die Franzosen untergangen waren, kam ein Teammitglied in die Lobby des Mannschaftshotels und rief euphorisch: „We lost the game – but we won the revolution.“ Erik Eggers 

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